Wie gespalten ist die deutsche Gesellschaft – und was bedeutet das für die Transformationsbereitschaft der Energie- und Mobilitätswende?

von Anne Kantel und Elisabeth Dütschke /

Deutschland steht angesichts multipler, sich überlagernder Krisen vor einer akuten Herausforderung: Einerseits sind tiefgreifende Transformationsprozesse erforderlich, um den Klimawandel, ausbleibendes Wirtschaftswachstum und zunehmende geopolitische Instabilitäten zu bewältigen. Andererseits zeigen sich Risse im gesellschaftlichen Gefüge, die etwa im Wahlergebnis der Bundestagswahl 2025 und bei der Kanzlerwahl sichtbar werden. Die neue Regierung muss umfassende energie- und verkehrspolitische Veränderungen anstoßen. Verschiedene Forschungsprojekte zeigen, dass eine zunehmende Polarisierung der Gesellschaft bei Themen rund um Klima, Energie und Verkehr dabei zwar eine Herausforderung darstellt, aber auch Chancen mit sich bringt.

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Die deutsche Gesellschaft bewegt sich in einem Spannungsfeld zwischen dringender Transformationsnotwendigkeit und wachsenden inneren Konfliktlinien. Im Wahlverhalten der Deutschen ist in einigen Teilen der Bevölkerung eine zunehmende Polarisierung entlang einer politischen Links-Rechts-Achse zu beobachten. Einzelne Bevölkerungsgruppen weisen dabei unterschiedliche Tendenzen auf: Beispielsweise werden Parteien links der Mitte häufiger von Frauen als von Männern gewählt und Parteien rechts der Mitte eher von Männern bevorzugt.[1]

Studien identifizieren zudem ein sinkendes Vertrauen von Teilen der Bevölkerung in politische Institutionen, was mögliche Konsequenzen für den gesellschaftlichen Zusammenhalt und die Demokratie-Akzeptanz haben könnte.[2] Dabei wird insbesondere immer wieder auf Unterschiede zwischen Ost und West sowie auf Unterschiede in der Gesellschaft je nach sozioökonomischem Status verwiesen.[3]

Wie gespalten ist Deutschland wirklich?

In der Öffentlichkeit wächst die Wahrnehmung, dass die Gesellschaft in Deutschland zunehmend fragmentiert ist. Die wissenschaftlichen Meinungen, ob und inwieweit die deutsche Gesellschaft tatsächlich mehr und mehr gespalten ist, sind etwas vorsichtiger.

So zeigt sich zwar, dass bestimmte Themen wie Klimawandel und Migration stärker polarisieren können als andere.[4] Zudem wächst auch die Sorge um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in der Bevölkerung. Vielen empirischen Befunden zufolge bleibt dieser Zusammenhalt jedoch bevölkerungsübergreifend weitgehend stabil: Es gibt weiterhin einen breiten Konsens zu vielen Themen in der Mitte der Gesellschaft.[5]

Dennoch gibt es auch hier wachsende – und ernstzunehmende – Unterschiede zwischen verschiedenen Gruppierungen in der Bevölkerung sowie eine sichtbare Radikalisierung politischer Ränder.[6]

Was gesellschaftliche Fragmentierung bedeutet

Im Kern lässt sich gesellschaftliche Fragmentierung als ein Zustand des Zusammenbruchs von Institutionen und Beziehungen charakterisieren.[7] In diesem Zustand sind Informationsflüsse, Interaktionskanäle und kreative Räume innerhalb des Systems gestört durch gravierende, systematische Einstellungskonflikte zwischen Bevölkerungsgruppen, sozioökonomische Ungleichheiten und eine wechselseitige Abschottung sozialer Netzwerke.[8]

Gesellschaftliche Fragmentierung verringert gemeinsame Erfahrungen bis hin zu einer vollständigen Abgrenzung von Gruppen voneinander. Aufgrund tiefgehender Einstellungs- und Wertekonflikte stehen sie sich zudem in (fast) allen Themenbereichen am anderen Ende des Pols ohne jeglichen Austausch gegenüber. Dies geht häufig mit Wahrnehmungen fehlender Anerkennung oder Gerechtigkeit für bestimmte Gruppierungen einher.

Aktuelle Projekte des Fraunhofer ISI wie MobilKult und HouseInc untersuchen in diesem Zusammenhang beispielsweise, wie Menschen die Gerechtigkeit von energiepolitischen Maßnahmen im Verkehrs- und Gebäudesektor wahrnehmen. Erste Ergebnisse einer repräsentativen Befragung im Kontext der Mobilitätswende in zwei deutschen Bundesländern im Projekt MobilKult zeigen, dass viele Menschen grundsätzlich eine Gefährdung des sozialen Zusammenhalts in Deutschland wahrnehmen – und zwar egal, ob sie in der Stadt oder auf dem Land, in Mecklenburg-Vorpommern oder Baden-Württemberg leben.

Wie sich gesellschaftliche Spaltung auf die Transformationsbereitschaft auswirken kann

Inwieweit gesellschaftlicher Zusammenhalt beziehungsweise dessen Fehlen die Transformationsbereitschaft einer Bevölkerung beeinflusst, ist bisher weitgehend unerforscht. Aktuelle Forschungsfragen des Fraunhofer ISI setzen hier an. In verschiedenen Projekten erforschen unsere Wissenschaftler:innen, wie gesellschaftliche Fragmentierung und die Veränderungsbereitschaft von Menschen und Institutionen in Transformationsprozessen miteinander verwoben sind.

Vier Thesen zur Wechselbeziehung von gesellschaftlicher Fragmentierung und Veränderungsbereitschaft angesichts multipler Krisen

Um die Wechselwirkungen zwischen gesellschaftlicher Fragmentierung und (energie- und verkehrspolitischen) Transformationsprozessen zu untersuchen, schlagen wir vier Thesen zur Diskussion vor:

1. Gesellschaftliche Fragmentierung blockiert individuelle Transformationsbereitschaft in der Gesellschaft.

In einer Gesellschaft mit großen sozioökonomischen Ungleichheiten, tiefgreifenden Meinungs- und Wertekonflikten sowie segregierten Netzwerken sind umfassende Veränderungen, die in den Alltag der Menschen eingreifen, besonders schwierig umzusetzen. Die Einstellung der Öffentlichkeit gegenüber Wissenschaft und Politik ist entscheidend dafür, wie leicht neue Ideen und Technologien akzeptiert werden. Sofern erhebliche Teile der Bevölkerung Wissenschaft, Regierungen oder Medien misstrauen, ist es viel schwieriger, technologische oder soziale Innovationen einzuführen und zu integrieren. Das kann wichtige gesellschaftliche Veränderungen blockieren.

Ideologische oder wertebedingte Skepsis gegenüber technologischen Lösungen kann die Verbreitung potenziell zielführender Innovationen verlangsamen. Andererseits kann eine übermäßig enthusiastische Annahme von Technologien ohne kritische Reflexion ebenfalls problematisch sein, da sich eine Gesellschaft dann zu sehr auf technische Lösungen verlassen und notwendige soziale oder Verhaltensänderungen vernachlässigen könnte.

Sozioökonomische Ungleichheiten erhöhen die Komplexität von Transformationsprozessen. Gruppen mit größeren finanziellen Ressourcen und größerem Markteinfluss fällt es oft leichter, ihre bevorzugten Innovationen zu fördern, diesen Ideen zum Durchbruch zu verhelfen und die Richtung der Transformation zu bestimmen. Im Gegensatz dazu können marginalisierte Gruppen in Transformationsprozessen auf Hindernisse stoßen: Sie haben möglicherweise keinen Zugang zu neuen Technologien oder werden von Entscheidungsfindungsdiskussionen ausgeschlossen. Das verstärkt das Gefühl der Ungerechtigkeit und vertieft gesellschaftliche Gräben.

2. Gesellschaftliche Fragmentierung führt zu einer verzerrten Perspektive auf dringende Transformationen.  

Soziale Vielfalt sowie Zusammenhalt in kleineren sozialen Gruppen können sich zunächst positiv auf Innovationen und damit auf mögliche innovationsgetriebene Veränderungen auswirken. Wenn neue Akteure, Ideen und Technologien auftauchen, nimmt unternehmerische, innovationsfördernde Aktivität oft zu. Diese Dynamik kann sogar in Gesellschaften fortbestehen, die bereits einen erheblichen Grad an Fragmentierung aufweisen.

Damit sich Innovationen verbreiten können, braucht es aber offenen Austausch, Zusammenarbeit und konstruktive Konflikte zwischen gesellschaftlichen Gruppen. Eine eingeschränkte Kommunikation zwischen den Gruppen behindert solche Aushandlungsprozesse. Wohlhabendere Gruppen, das heißt Gruppen mit größeren sozioökonomischen Ressourcen, die sich oft mit dem Status quo zufriedengeben, können aus den Augen verlieren, wo Innovationen am dringendsten gebraucht werden. Gleichzeitig können ressourcenarme Gruppen Schwierigkeiten haben, an Lösungen teilzuhaben oder diese zu entwickeln und umzusetzen, da ihnen oft Finanzierung, Unterstützung oder Sichtbarkeit fehlen.

Werden diese Hindernisse nicht beseitigt, kann sich die Entwicklung dringend benötigter Innovationen – insbesondere derjenigen, die für eine nachhaltige Transformation des Energie- und Mobilitätssystems unerlässlich sind – verlangsamen. Ungelöste soziale Spannungen wiederum könnten die Spaltungen noch weiter vertiefen und sowohl die Innovation als auch den gesellschaftlichen Fortschritt im Allgemeinen untergraben.

3. Gesellschaftliche Fragmentierung blockiert institutionelle Transformationen in demokratischen Systemen mit vielen Vetopunkten.

Gesellschaftliche Fragmentierung zeigt sich durch tiefgehende Meinungs- und Einstellungskonflikte. Aus diesen Unterschieden können mächtige Gruppen entstehen, die die Bemühungen der anderen blockieren. Infolgedessen können politische Systeme festfahren und wichtige Reformen ins Stocken geraten.

Deutschland ist ein demokratisches System mit vielen »Vetopunkten«, das heißt mit vielen institutionellen Möglichkeiten für Gruppen, Entscheidungen zu stoppen oder zu verlangsamen. In solchen Systemen können Prozesse noch einfacher ins Stocken geraten. In konsensbasierten Demokratien ist das häufiger der Fall als in Systemen, in denen eine einfache Mehrheit Entscheidungen durchsetzen kann. Gleichzeitig dienen Vetopunkte als wichtige Kontrollmechanismen in einem demokratischen System, das unterrepräsentierte, verletzliche Gruppen schützen möchte.

Gesellschaften mit großen internen Spaltungen weisen mit höherer Wahrscheinlichkeit instabile politische Systeme auf. Wenn ein Teil der Bevölkerung größere Veränderungen fordert, während sich ein anderer Teil vehement dagegen wehrt, können Versuche, das System umzugestalten, schwere Konflikte auslösen. Dies könnte zu weiterer, dauerhafter Instabilität und zunehmender Fragmentierung führen. Statt die notwendigen Veränderungen zu erreichen, könnten Gesellschaften mit schwachen, instabilen Transformationssystemen im schlimmsten Fall zusammenbrechen oder sich in mehrere, konkurrierende Systeme aufspalten.

4. Gesellschaftliche Fragmentierung kann tiefgreifende Transformationsprozesse antreiben.

Die Spaltung einer Gesellschaft kann Wandel erschweren oder neue Möglichkeiten schaffen. Wenn verschiedene Gesellschaftsgruppen sehr unterschiedliche Bedürfnisse, Interessen und Vorstellungen von der Zukunft haben, kann der Druck auf das bestehende System zunehmen. Diese Spannungen und Konflikte können sogenannte »Gelegenheitsfenster« eröffnen: Momente, in denen große Veränderungen möglich werden.

Wenn viele Menschen aus unterschiedlichen Richtungen Veränderungen fordern, kann das helfen, die öffentliche Unterstützung zu gewinnen, die für größere Reformen nötig ist.

Kurz gesagt: Gesellschaftliche Zersplitterung erschwert zwar häufig Veränderungen, kann das System aber auch so erschüttern, dass ein echter systemischer Wandel sowohl notwendig als auch möglich wird.

 

Fazit

Gesellschaftliche Fragmentierung ist ein potenziell ambivalenter Faktor für tiefgreifende Transformationsprozesse. Einerseits kann sie sowohl individuelle als auch institutionelle Transformationsbereitschaft senken. Sie kann beispielsweise das Misstrauen gegenüber Wissenschaft, Medien und Politik erhöhen, sozioökonomische Ungleichheiten verstärken sowie politische Blockaden in konsensbasierten Demokratien begünstigen, was sich negativ auf dringend notwendige Transformationen auswirken kann. Andererseits könnte Fragmentierung auch das Potenzial besitzen, Wandel zu beschleunigen – insbesondere dann, wenn unterschiedliche gesellschaftliche Gruppen gleichzeitig Druck auf das bestehende System ausüben.

In solchen Spannungsphasen können sich neue Möglichkeitsfenster öffnen, die grundlegende Veränderungen erst ermöglichen. Entscheidend ist, ob es gelingt, diese Konflikte produktiv zu gestalten und durch inklusiven Dialog sowie institutionelle Lernfähigkeit gesellschaftliche Spaltungen zu verringern und in nachhaltige Veränderungen zu überführen – vor genau dieser schwierigen Aufgabe steht nach den Bundestagswahlen auch die neue Bundesregierung.

 

Quellen