von Dr. Elisabeth Dütschke, Dr. Anne Kantel und Dr. Josephine Tröger
Gesellschaftliche Spaltungen in Deutschland und ihre Auswirkungen: Mit Forschung gegen die Fragmentierung
Durch die deutsche Gesellschaft ziehen sich immer mehr Risse – das wird spätestens seit der Bundestagswahl 2025 deutlich. In vielen wichtigen Zukunftsfragen scheint die Bevölkerung gespalten: Verbrenner-Autos oder Elektromobilität, Wind- oder Atomkraft, Einfamilienhaus oder Geschosswohnung? Am Fraunhofer ISI untersuchen wir die Ausprägung sowie Auswirkungen solcher gegensätzlicher Einstellungen und geben ausgehend von unserer Forschung wichtige Empfehlungen für die Politik. In diesem Blogbeitrag geben wir einen Überblick über verschiedene Handlungsfelder im Spannungsbereich von Fragmentierung und Transformationsbedarf.
Was ist gesellschaftliche Fragmentierung?
Gesellschaftliche Fragmentierung kann grundsätzlich verstanden werden als ein Zustand des Zusammenbruchs von Institutionen und Beziehungen. In diesem Zustand sind Informationsflüsse, Interaktionskanäle und kreative Räume innerhalb des Systems gestört durch gravierende, systematische Einstellungskonflikte zwischen Bevölkerungsgruppen, sozioökonomische Ungleichheiten und eine wechselseitige Abschottung sozialer Netzwerke. Gesellschaftliche Institutionen und Entscheidungsprozesse sind dann nicht mehr effektiv.
Bei Einstellungskonflikten geht es um unterschiedliche Werthaltungen und Meinungen – etwa zum Wirtschaftssystem, der Rolle von Technologie und Natur oder der Geschlechtergleichheit. Unter sozioökonomischen Ungleichheiten verstehen wir die ungleiche Verteilung von Ressourcen, Chancen und Lebensbedingungen in einer Gesellschaft, die sich aus Faktoren wie Einkommen, Vermögen und Bildung ergeben. Eine Abschottung sozialer Netzwerke tritt auf, wenn die Interaktion zwischen verschiedenen sozialen Gruppen kaum oder gar nicht mehr stattfindet.
Wie gespalten die deutsche Gesellschaft derzeit ist – und wie sich das auf die Bereitschaft zu dringend benötigten Transformationen beispielsweise im Energiesektor auswirken kann –, haben wir zum Start der neuen Regierungskoalition in einem ausführlichen Blogbeitrag diskutiert. Darauf aufbauend beleuchten wir in drei LinkedIn-Artikeln die Auswirkungen sozialer Fragmentierung auf unterschiedliche Lebensbereiche. Anhand dieser drei Themenkomplexe zeigen wir, wie wir mit unserer System- und Innovationsforschung wichtige Erkenntnisse für politische Weichenstellungen gewinnen. Die einzelnen Artikel stellen alltagsnahe Forschungsprojekte mit ihren Zielen, Methoden und (Zwischen-) Ergebnissen vor.
Sozioökonomische Ungleichheiten als Herausforderung im Wohnsektor

Welchen Zusammenhang gibt es zwischen ungleichen Wohnsituationen und der zunehmenden gesellschaftlichen Spaltung?
Wohnungleichheiten haben in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen: Menschen in Deutschland haben ungleichen Zugang zu qualitativ-angemessenem Wohnraum. Besonders Menschen mit Flucht- oder Migrationsbiografien, Angehörige ethnischer Minderheiten, Familien mit Kindern, Alleinerziehende und Rentner:innen stehen oft vor erheblichen Herausforderungen im Bereich Wohnen.
Ob und wie Wohnungleichheit und zunehmende gesellschaftliche Fragmentierungstendenzen zusammenhängen oder sich begünstigen können, war bisher allerdings weitgehend unerforscht.
Im EU-geförderten Projekt HouseInc untersuchen wir die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Treiber und Auswirkungen von Wohnungleichheit mit einem Fokus auf marginalisierte Gruppen. Das Ziel des Projekts ist es, politische Empfehlungen für lokale, regionale und nationale Entscheidungsträger:innen abzuleiten, die darauf abzielen, bezahlbaren, nachhaltigen und inklusiven Wohnraum für alle zu ermöglichen.
Anhand von vier Fallstudien mit vulnerablen Gruppen in Deutschland, Rumänien, Italien und Tschechien konnten wir gemeinsam mit unseren Projektpartnern zeigen, dass ausgewählte Dimensionen gesellschaftlicher Fragmentierung im Kontext von Wohnungleichheiten sichtbar sind. Fragmentierung könnte als Treiber von Wohnungleichheit wirken, während gleichzeitig Wohnungleichheit Fragmentierung begünstigen könnte.
Im LinkedIn-Artikel erörtern wir, wie beides zusammenhängen kann und diskutieren sechs mögliche Manifestationen von Wohnungleichheit.
Verkehrswende trotz Fragmentierung: Die Rolle der Akzeptanz von Maßnahmen im Mobilitätsbereich

Inwiefern muss gesellschaftliche Fragmentierung bei der Gestaltung mobilitätspolitischer Maßnahmen berücksichtigt werden?
Deutschland steht vor der Herausforderung, notwendige Transformationsprozesse im Energie- und Mobilitätssektor umzusetzen, während gleichzeitig gesellschaftliche Polarisierung und Risse im sozialen Gefüge zunehmen. Wirkt diese Fragmentierung als Hindernis für die Transformation zu einem nachhaltigen, bezahlbaren und alltagstauglichen Mobilitätssystem?
Fragmentierung kann sowohl Unterstützung als auch Widerstand in Bezug auf Zielsetzungen und Umsetzung der Verkehrswende hervorrufen. Das kann zu politischen Blockaden führen, die transformative Maßnahmen erschweren. Während das Mobilitätsverhalten gut erforscht ist, fehlt es bislang an Studien darüber, wie gesellschaftliche Fragmentierung mit der Akzeptanz verkehrspolitischer Maßnahmen zusammenhängt und wie sich dies zwischen verschiedenen sozialen Gruppen unterscheidet. Diesen Frage gehen wir am Fraunhofer ISI mit zwei Forschungsprojekten nach.
Die Ergebnisse aus dem Projekt MobilKULT zeigen: Wer größere gesellschaftliche Spaltung wahrnimmt, lehnt transformative Maßnahmen wie etwa Tempolimits oder Unterstützung für Elektrofahrzeuge eher ab. Entscheidend für die Akzeptanz von Maßnahmen ist, welche sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen jemand mitbringt und wie wiederum die Gegebenheiten vor Ort ausgestattet sind, mit denen die Menschen in ihrem alltäglichen Leben in Berührung kommen. Stadt und Land, verschiedene Einkommens- oder Altersgruppen – sie alle haben Auswirkungen auf die unterschiedlichen Perspektiven und wahrgenommenen Bedürfnisse von Menschen in Bezug auf Mobilität.
Eine Studie im Auftrag des Bundesverkehrsministeriums hat allerdings ergeben, dass in der Bevölkerung ein breiter Konsens über bestimmte Maßnahmen besteht, die als erhaltenswert oder sogar ausbaufähig gelten – etwa das Deutschlandticket oder der Ausbau von Fahrradinfrastruktur. Andere Maßnahmen und Vorschläge stoßen bei einigen Bevölkerungsgruppen hingegen auf Ablehnung. Unser zweiter LinkedIn-Artikel fasst zusammen, was die gesellschaftliche Spaltung für Mobilitätspolitik in Deutschland bedeutet und worauf die Politik bei der Umsetzung von Maßnahmen achten sollte.
Die gleiche Befragung mit rund 2.100 Personen haben wir in einem weiteren Schritt genauer untersucht. Mit etwas tiefgreifenderen Analysen konnten wir insgesamt fünf Gruppen identifizieren, die sich entlang der drei Dimensionen der Fragmentierung – Wertekonflikte, sozio-ökonomische Ungleichheit und Netzwerksegregation – differenzieren und charakterisieren lassen.
Auf diese Weise konnten wir eine moderate, breite Mitte der Gesellschaft identifizieren, die bei vielen Themen eher gemäßigte Ansichten hat. Diese wird allerdings flankiert von zwei Gruppen, die sich in der Zustimmung bzw. Ablehnung von Mobilitätswendemaßnahmen polarisierend gegenüberstehen. Hier ist also ein starker Hinweis darauf, dass Polarisierung und Zustimmung von Politikmaßnahmen ein real vorhandenes Spannungsfeld ist, in dem sich Entscheidungsträger:innen bewegen.
Die Ergebnisse deuten auch darauf hin, dass gesellschaftliche Fragmentierung bei der Bildung der öffentlichen Meinung zu Mobilitätspolitiken wichtig ist. Im LinkedIn-Artikel haben wir die Merkmale der einzelnen Gruppen zusammengefasst. Außerdem erläutern wir, bei welchen Themen die Gruppen sich eher einig sind und welche Vorschläge für eine nachhaltige Verkehrswende die Menschen spalten.