Wie viel grünen Wasserstoff benötigt Europas Industrie im Jahr 2050?
Der Wandel zu einer klimaneutralen Industrie in Europa ist für die Bekämpfung der Klimakrise von zentraler Bedeutung. Im Mittelpunkt dieser Industriewende stehen vor allem die Produktion von Stahl, Zement und Chemikalien. Eine neue Studie des Fraunhofer ISI für die EU-Kommission hat die Auswirkungen der Industriewende auf das europäische Energiesystem in verschiedenen Szenarien untersucht. Die Studie zeigt, dass Europas Industrie im Jahr 2050 selbst bei starker Elektrifizierung der Prozesswärme substanzielle Mengen an grünem Wasserstoff und eine entsprechende Transportinfrastruktur benötigen wird. Studienautor Dr. Tobias Fleiter erläutert die Ergebnisse und verrät im Interview, woher grüner Wasserstoff für unsere Industrie in Zukunft kommen könnte.
Wie könnte das Energiesystem Europas im Jahr 2050 aussehen?
Tobias Fleiter: Die gute Nachricht ist, dass unsere Analyse zeigt: eine Treibhausgasreduktion von mindestens 95 Prozent für den europäischen Industriesektor bis 2050 ist möglich. Doch damit diese Transformation gelingt, muss noch einiges passieren. Zum Beispiel die Umsetzung der Kreislaufwirtschaft, höhere Energie- und Materialeffizienz sowie eine schnelle Einführung und Verbreitung von klimaneutralen Produktionsmethoden in vielen Sektoren, teilweise schon vor 2030.
Das europäische Energiesystem wird 2050 durch eine stark erhöhte Nachfrage nach Strom und Wasserstoff geprägt sein. Alleine in der Industrie könnte der Strombedarf so je nach Szenario von gut 1.000 TWh in 2019 auf 1500 bis 1850 TWh in 2050 ansteigen. Die Nachfrage nach Wasserstoff könnte 2050 zwischen 1350 und 1800 TWh betragen, je nach Grad der Elektrifizierung. Deutlich geringer könnte die Wasserstoffnachfrage ausfallen, wenn die Grundstoffchemie und die Stahlindustrie einzelne energieintensive Produktionsschritte ins außereuropäische Ausland verlagern. Die gesamte Energienachfrage, zu der heute auch noch viele fossile Energieträger zählen, wird allerdings aufgrund steigender Energieeffizienz in im Jahr 2050 geringer als heute ausfallen.
In der Studie nutzen wir das Energiesystemmodell METIS, um ein CO2-neutrales europäisches Energiesystem zu untersuchen. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Rolle einer CO2-neutralen Industrieproduktion und ihren Auswirkungen auf das Wasserstoff- und Stromsystem. Die Modellierung legt eine Kostenoptimierung des Systems zugrunde. Dabei wird die zukünftige Nachfrage nach Strom und Wasserstoff vorgegeben und das Modell berechnet einen Systemzustand zu minimalen Gesamtkosten. Einschließlich des Ausbaus und Einsatzes von Erneuerbaren Energien, Transportkapazitäten zwischen den Ländern sowie Speichern.
Welchen Einfluss hat die Transformation der Industrie auf das Energiesystem?
Tobias Fleiter: Die CO2-neutrale Industrieproduktion wird große Mengen CO2-neutralen Wasserstoff und Strom benötigen. Besonders für die Bereitstellung von Prozesswärme und den Ersatz von heute genutztem Erdgas, aber auch für die Versorgung der chemischen Industrie. Wenige Zwischenprodukte der chemischen Industrie (und der Stahlherstellung) sind für einen Großteil der Wasserstoffnachfrage verantwortlich. Gleichzeitig ist sehr unsicher, wie die Chemie in Zukunft ihre CO2-neutralen Wertschöpfungsketten global aufstellen wird. Daher haben wir eine Szenariovariante gerechnet, in der wir annehmen, dass die Zwischenprodukte Ammoniak, Methanol und Ethylen sowie Eisenschwamm nach Europa importiert werden. Dies würde zu einer etwa 900 TWh niedrigeren Nachfrage nach Wasserstoff führen.
In welchen Ländern könnte grüner Wasserstoff für Europas Industrie am günstigsten produziert werden?
Tobias Fleiter: Die Ergebnisse zeigen ein relativ klares Bild: Zentrale Voraussetzungen des CO2-neutralen Systems sind große Mengen Photovoltaik- und Windstrom, die an den besten Standorten in Europa ausgebaut werden. Unser Modell sieht die größten Kapazitäten für die Produktion von grünem Wasserstoff in Frankreich, Spanien, im Vereinigten Königreich sowie Norwegen. Bei Eintreten des Wasserstoff-Szenarios könnte zusätzlich Finnland mit zu einem der großen Wasserstoff-Exporteure in Europa werden, um die Nachfrage in Europa zu decken. Falls die Standorte für Erneuerbare Energien nicht kostenoptimal ausgenutzt werden, wäre es wirtschaftlich Wasserstoff aus Nordafrika bzw. der MENA-Region zu importieren, um Europas Bedarf zu stillen. Grüner Wasserstoff wird durch Elektrolyse erzeugt, vor allem in Regionen mit hohem EE-Potenzial und geringem Energiebedarf. Der Wasserstoff wird danach über ein Leitungsnetz in die Nachfragezentren transportiert. Dazu zählen beispielsweise Deutschland und die Niederlande mit hoher Bevölkerungsdichte und chemischer Grundstoffindustrie.
Laut Studie würden in Deutschland unter kostenoptimaler Betrachtung keine nennenswerte Produktion von grünem Wasserstoff stattfinden, da andere Länder bessere Produktionsbedingungen haben. Sollte Deutschland demnach auf eine eigene Produktion von grünem Wasserstoff verzichten?
Tobias Fleiter: Wichtig ist bei der Interpretation der Studie, dass die Szenarien von einem rein techno-ökonomisch optimierten Aufbau des CO2-neutralen Energiesystems in Europa ausgehen, also ohne jegliche politischen und gesellschaftlichen Einschränkungen in der Umsetzung. Diese Studie ist insofern auf keinen Fall eine Prognose und kann auch nicht direkt Vorlage für die Politik sein. Sie kann aber in die Entwicklung von Strategien einfließen. Und da ist die zentrale Botschaft für die EU und ihre Mitgliedstaaten, dass die Integration des europäischen Systems (über den Strom- und Wasserstoffhandel) Kostenvorteile gegenüber nationalen Lösungen mit sich bringt.
Dass die Produktion von grünem Wasserstoff an Standorten mit hohem Potenzial für Wind- und Solarenergie kosteneffizienter ist, sollte niemanden überraschen. Trotzdem muss die Politik abwägen, inwiefern sich beispielsweise Deutschland vom (europäischen) Ausland abhängig machen möchte und sollte. Wenn zusätzlich noch die Erwartungen vorliegen, dass der Ausbau der Erneuerbaren in vielen Ländern nicht so schnell wie errechnet vorangehen wird, sollte Deutschland natürlich trotzdem versuchen, eigenen grünen Wasserstoff zu produzieren. Systemresilienz ist hier also auch ein wichtiges Stichwort und sollte nicht vernachlässigt werden. Am Ende steht die gute Nachricht, dass Europa in der Theorie die Voraussetzungen erfüllt, sich selbst kosteneffizient mit grünem Wasserstoff unabhängig von Drittstaaten zu versorgen.
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