Wie lässt sich in Zukunft mehr nach inneren Uhren leben?

Im Projekt CIRCADIA untersuchten das Fraunhofer ISI und die FOM Hochschule, wie sich Technologien und ein entstrukturierter Alltag auf die circadianen Rhythmen, also die inneren Uhren der Menschen, auswirken könnten. Zu den Empfehlungen der Studie gehören die Abschaffung der Uhrumstellung im März, die Anpassung der Schulzeiten und mehr Wertschätzung des Tageslichts.

Bald ist wieder Zeitumstellung – und jedes Jahr beginnen Diskussionen über das Für und Wider sowie die Folgen für die Bevölkerung. Etliche Auswirkungen entstehen dadurch, dass viele Vorgänge im menschlichen Körper rhythmisch organisiert sind, zum Beispiel Herzschlag und Atmung sowie der Wechsel zwischen Wachsein und Schlaf. Abweichungen von diesen Rhythmen – etwa durch zu kurze Schlafphasen, Nachtarbeit, zu wenig Tageslicht, Licht zur falschen Zeit oder die Uhrumstellung im März und Oktober – können sogar die Gesundheit verschlechtern.

Im Projekt CIRCADIA (Circadiane Rhythmen und Technologie – Desynchronisation im Alltag) haben das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI sowie die FOM Hochschule untersucht, wie Technologien seit der Covid-19-Pandemie den Alltag und seine Strukturen verändert haben und welche Entwicklungen in Zukunft möglich sind.

Wie lassen sich die circadianen Rhythmen unterstützen?

Nachdem die Wissenschaftler:innen fast 2.000 Menschen zu ihren täglichen Gewohnheiten, zum Beispiel der Bildschirmnutzung, befragt haben, empfehlen sie in der Publikation »Auf dem Weg in eine chronobiologisch aufgeklärte Gesellschaft« eine wesentlich breitere Aufklärung zum Thema circadiane Rhythmen – inklusive Forschung im täglichen Leben und nicht nur im Schlaflabor.

Es gibt viele Möglichkeiten, sowohl den einzelnen Menschen mit ihren unterschiedlichen Chronotypen als auch der gesamten Gesellschaft besseren und mehr Schlaf zu ermöglichen – und damit mehr Ausgeglichenheit, bessere Leistungsfähigkeit und größeres Wohlbefinden.

Drei relativ kurzfristig umsetzbare Maßnahmen sind:

  • Abschaffung der Sommerzeit: Aus chronobiologischer Sicht passt in Mitteleuropa die Standardnormalzeit ganzjährig am besten, damit die Menschen ausreichend Schlaf bekommen. Die Umstellung der Uhren im März und Oktober bringt die Schlafphasen und die circadianen Rhythmen aller Menschen, besonders aber der späten Chronotypen, durcheinander. Prof. Dr. Kerstin Cuhls vom Fraunhofer ISI sagt: »Der Begriff Zeitumstellung ist falsch: Wir stellen nicht die Zeit um, sondern nur die Uhren – und passen uns dann den Uhren an. Auch wenn es nur eine Stunde ist: Diese eine Stunde ist ein nachweislicher Störfaktor für Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit. Zwar hat sich ein Teil der Menschen nach einer Woche angepasst, aber nicht alle können das und leiden darunter.«
  • Späterer Schulbeginn für Teenager: Ob Menschen frühe, mittlere oder späte Chronotypen sind, ist angeboren, aber wie genau ihre inneren Uhren ticken, verändert sich im Laufe des Lebens mehrmals. Im Teenager-Alter sind Menschen im Durchschnitt später in ihrer Biologie als zu anderen Zeiten in ihrem Leben. Deshalb haben viele von ihnen bei einem Schulbeginn um 8 Uhr morgens ein biologisch begründetes Leistungstief – die meisten sind nach ihrer inneren Uhr noch mitten in der Nacht. Im Laufe des Tages verbessert sich die Leistungsfähigkeit jedoch. Morgens um 8 Uhr ist von vielen Teenagern daher kaum konzentriertes Lernen zu erwarten, erbrachte Schulnoten sind zwischen den unterschiedlichen Chronotypen schlecht vergleichbar.
  • Tageslicht sowie ausreichenden und qualitativ guten Schlaf wertschätzen: Ausreichend zu schlafen und sich wieder mehr draußen zu bewegen – insbesondere am Morgen, beispielweise durch Sport oder Schulunterricht draußen – ist eine grundsätzliche Empfehlung zur Unterstützung circadianer Rhythmen und sollte durch Kampagnen unterstützt werden. Zudem sind Innenräume, zum Beispiel Arbeitsplätze, häufig unzureichend beleuchtet. Da trotz technischer Fortschritte das Tageslicht nicht nachgeahmt werden kann, sollten zumindest architektonische Lösungen dafür sorgen, dass mehr Tageslicht in Gebäude gelangt.

Balance zwischen eigenem Chronotyp und gesellschaftlichen Anforderungen

Diese Maßnahmen wären erste Schritte in eine chronobiologisch aufgeklärte Gesellschaft. Darunter verstehen das Fraunhofer ISI und die FOM Hochschule eine Gesellschaft, die im Alltag bewusst mit den circadianen Rhythmen umgeht: Menschen kennen ihren Chronotyp und strukturieren ihren Alltag entsprechend, Arbeitgeber:innen und Bildungseinrichtungen bieten auf verschiedene Typen abgestimmte Arbeits- und Lernzeiten an, die prinzipiell gesundheitsschädliche Nachtarbeit findet nur in systemrelevanten Bereichen wie Sicherheit und Medizin statt.

In einer solchen Gesellschaft ist »viel Tageslicht für alle« ein zentrales Gesundheitsthema: Freizeitaktivitäten finden vor allem draußen statt, auch die meisten Begegnungsräume sind dort, bei Neubauten wird die Nutzung von Tageslicht stark einbezogen. So soll die Zeit reduziert werden, die Menschen in Innenräumen und vor Bildschirmen verbringen, wie es vor allem seit Beginn der Covid-19-Pandemie verstärkt der Fall ist.

Prof. Dr. Kerstin Cuhls vom Fraunhofer ISI betont: »Die im Forschungsprojekt entwickelten Szenarien zeigen, dass neben zeitlichen Konflikten zwischen Alltag, Beruf und Schule zukünftig externe Effekte ebenso berücksichtigt werden müssen. Beispielsweise können durch den Klimawandel bedingte Hitzeperioden den Schlaf beeinflussen, wodurch der circadiane Rhythmus gestört wird und die Gesundheit leidet. Auch die Auswirkungen der digitalisierten Welt auf die inneren Uhren – Stichwort ständige Erreichbarkeit – sollten minimiert werden.«

Daher plädieren die Autor:innen für mehr langfristiges Denken. Methoden der Vorausschau (Foresight) wie Scanning langfristiger Themen, Szenarien und Experimentierräume helfen dabei, das Thema und seine langfristigen Auswirkungen im zukünftigen Alltag weiter zu erforschen. Damit wäre es besser möglich, die Chancen und Herausforderungen im Spannungsfeld zwischen Technikentwicklung, gesellschaftlichem Wandel und individuellen Rhythmen zu erkunden. Wie eine verstärkte Aufklärung, was circadiane Rhythmen bedeuten, sogar zu einem besseren Miteinander und Verständnis füreinander beitragen kann, ist ebenfalls in der Studie nachzulesen.

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Das Fraunhofer-Institut für System- und Innovationsforschung ISI analysiert Entstehung und Auswirkungen von Innovationen. Wir erforschen die kurz- und langfristigen Entwicklungen von Innovationsprozessen und die gesellschaftlichen Auswirkungen neuer Technologien und Dienstleistungen. Auf dieser Grundlage stellen wir unseren Auftraggebern aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft Handlungsempfehlungen und Perspektiven für wichtige Entscheidungen zur Verfügung. Unsere Expertise liegt in der fundierten wissenschaftlichen Kompetenz sowie einem interdisziplinären und systemischen Forschungsansatz.

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