»Menschen brauchen helle Tage und dunkle Nächte.«

von Ulrike Aschoff /

Im Projekt CIRCADIA untersucht das Fraunhofer ISI gemeinsam mit der FOM Hochschule, wie die verstärkte Nutzung von Bildschirmen seit Beginn der Covid-19-Pandemie den Alltag der Menschen verändert und wie sich das auf den Schlaf und die circadiane Rhythmik auswirkt. Im Interview berichtet Prof. Dr. Kerstin Cuhls aus dem Competence Center Foresight von Bettzeit-Prokrastination sowie Schlafverkürzung – und empfiehlt unter anderem bewusstes Ausschalten von Geräten.

Im Projekt CIRCADIA untersucht ihr, wie die verstärkte Bildschirmnutzung seit Beginn der Covid-19-Pandemie die Rhythmen und Alltagsstrukturen der Menschen beeinflusst, zum Beispiel das Schlafverhalten. Was sind die wichtigsten Ergebnisse?

Bildschirme, vor allem von Laptops oder Smartphones, können als Lichtquellen, die sich sehr dicht vor dem Auge befinden, wachmachen und können zudem Einfluss auf die circadianen Rhythmen der Menschen nehmen. Das bedeutet: Sie wirken auf den Schlaf und die Chronobiologie, das heißt die Funktionsweise unseres Organismus im Rhythmus von Tag und Nacht. Unsere repräsentative Befragung von fast 2.000 Menschen ab 18 Jahren in Deutschland zeigt eine vermehrte Bildschirmnutzung, sowohl beruflich als auch mit Freund:innen oder Bekannten. Sie verbringen mehr Zeit mit Videokonferenzen, in Webinaren oder Videospielen.

Das helle, direkte und blaue Licht von Bildschirmen am Abend kann also dazu beitragen, dass Menschen erst später einschlafen und dann gegebenenfalls sogar schlechter schlafen. Hinzukommt ein Phänomen, das Bettzeit-Prokrastination genannt wird: In unserer Studie gaben 39 Prozent an, dass sie länger aufbleiben als geplant, obwohl sie wissen, dass sie es am nächsten Tag bereuen könnten. Bereuen bedeutet, sie sind müde und unausgeschlafen. Eine Beschäftigung am Bildschirm kann in diesem Kontext mit dazu beitragen, dass Menschen ihre Bettzeit künstlich aufschieben.

Wie wirkt sich dieses Aufschieben des Schlafengehens aus?

Vor allem an Arbeitstagen müssen viele trotz des späten Einschlafens früh aufstehen, sodass sich die Schlafdauer verkürzt. Eine regelmäßige Schlafverkürzung hat chronischen Schlafmangel zur Folge. Dazu trägt zunehmend auch die abendliche Techniknutzung bei.

Über einen langen Zeitraum hinweg erhöht sich die Wahrscheinlichkeit von Störungen der circadianen Rhythmik. Dies wiederum kann mittel- bis langfristig zu gesundheitlichen Problemen führen, etwa Störungen des Herz-Kreislauf-Systems. Für Menschen, die schlecht schlafen und morgens nicht erholt aufwachen, und dies mehrmals pro Woche, ist daher eine Reduktion ihrer Techniknutzung sowie künstlicher Beleuchtung am Abend und nachts zu empfehlen, bevor sie zu Schlafmitteln oder gar Melatonin-Tabletten greifen.

Die Zahl der Corona-Infektionen und Erkältungen steigt und viele arbeiten – weiter oder wieder – im Home-Office.  Worauf sollten diese Menschen besonders achten, wenn auch die Zeiten vor den Bildschirmen wieder zunehmen?

Alarmierend finden wir neben den ermittelten hohen Werten von Stress und Sorgen vor dem Schlaf die ebenfalls ausgeprägte Bildschirmnutzung bei den Befragten. Wie weit Bildschirme unsere Schlafqualität mindern, sollte wesentlich stärker erforscht werden, da ihre Nutzung in unserem Alltag voraussichtlich noch weiter zunehmen wird – ob mit Pandemie oder ohne.

Wir sollten wesentlich bewusster mit der uns umgebenden Technik und dem Licht, das sie ausstrahlt, umgehen. Hierzu gehört auch ein Verzicht auf Bildschirmnutzung, zumindest in den letzten zwei Stunden vor dem Schlafen – und wenn dies nicht möglich oder gewünscht ist, zumindest die Helligkeit dimmen und zusätzlich einen Blaulichtfilter anschalten. Achtung, wir raten davon ab, Brillen mit Blaulichtfilter den ganzen Tag über zu tragen, da unser circadianes System tagsüber die kurzwelligen (blauen) Anteile im Licht braucht.   

Da viele die Wirkungen der Smartphone oder Laptop-Nutzung auf ihren circadianen Rhythmus gar nicht kennen oder es ihnen im Alltag nicht gelingt, den Gebrauch einzuschränken, ist es aus unserer Sicht dringend an der Zeit, Empfehlungen für einen informierten Umgang mit Bildschirmmedien und Beleuchtungsquellen aller Art zu entwickeln –  und zwar sowohl für die Arbeit als auch für die Freizeit.

Wie könnten solche Empfehlungen aussehen?

Aus der Bestandsaufnahme unserer CIRADIA-Studie wissen wir Folgendes: Ist es zu dunkel oder zu hell, bemerken wir dies sofort und korrigieren, indem wir das Licht an- oder ausschalten. Dies ist die direkt wahrnehmbare visuelle Wirkung von Licht.

Die nicht-visuelle Wirkung des Lichts jedoch, welche die Synchronisation der circadianen Rhythmen mit dem 24-Stunden-Tag erlaubt, entzieht sich unserer bewussten Wahrnehmung. Indirekt nehmen wir Störungen der circadianen Rhythmik aber wahr, beispielsweise als Schlafprobleme oder Störungen des Stoffwechsels.

Daher ist in unseren CIRCADIA Zukunftsworkshops immer wieder betont worden, dass Menschen helle Tage und dunkle Nächte brauchen, weil nur so gewährleistet ist, dass das circadiane System nicht gestört wird. Denn ein gestörtes circadianes System steht im Zusammenhang mit gestörtem Schlaf und gestörter Gesundheit.

Die Liste der im Projekt gemeinsam mit Expertinnen und Experten erarbeiteten Empfehlungen beginnt mit dem Hinweis, viel Zeit draußen bei Tageslicht zu verbringen, idealerweise morgens, möglichst direkt nach dem Aufwachen. Wir sollten das Tageslicht solange wie möglich draußen nutzen – auch wenn der Himmel voller Wolken hängt, reicht dieses Licht aus. Wenn wir drinnen sind, sollten wir uns möglichst nahe an einem Fenster aufhalten.

In die Zeitspanne zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang hingegen gehört im Alltag so wenig Licht wie möglich – idealerweise gar kein Licht. Unterstützen können wir das circadiane System dadurch, dass wir in den zwei bis drei Stunden vor dem Schlafengehen das Licht dimmen beziehungsweise nicht benötigte Lichtquellen ausschalten. Gute Möglichkeiten sind zum Beispiel, sich bei Kerzenschein zu unterhalten oder bei sehr geringer künstlicher Beleuchtung zu spielen. Wichtig ist dann: Smartphone und Co. sind ab zwei, besser sogar drei Stunden vor dem Schlaf komplett auszuschalten.

Weiterhin empfehlen wir, im Selbstexperiment eine oder besser zwei Wochen lang einen Bildschirm-Detox oder sogar einen kompletten digitalen Detox auszuprobieren. Dies ist einer der Gestaltungsspielräume, die wir individuell haben – und mit denen wir unsere Lichtzufuhr im Alltag und damit auch unsere circadianen Rhythmen besser in Einklang mit der natürlichen Umwelt bringen können. Wer schlecht schläft, hat auf diese Weise eine gute Chance, erholsamer zu schlafen. 

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