Erkenntnisse aus dem Strategiedialog Automobilwirtschaft Baden-Württemberg (SDA): Wie gelingt uns die nachhaltige Mobilitätswende?

von Meike Walli-Schiek, Daniela Beyer und Marion-Weissenberger-Eibl /

Mittlerweile ist allen klar: Wir müssen uns in Baden-Württemberg neu aufstellen. Lange hat der Automobilstandort Baden-Württemberg von seiner innovativen Industrie und einer eingespielten Forschung und Entwicklung profitiert. Der traditionelle Automobilbereich leistet einen zentralen Beitrag für die Transformation zu einer zukunftsorientierten Mobilität. Doch geht es nicht allein darum, neue Technologien zu entwickeln und Bestehendes zu optimieren. Unser Ziel sollte eine nachhaltige Mobilitätswende sein, die über eine Antriebs- und Verkehrswende hinausgeht. Wir müssen Mobilität als Ganzes neu denken und alternative Pfade einschlagen. Für ein Zukunftskonzept der Mobilität braucht das Innovationssystem neue Akteure, neue Kooperationen, neue Ideen und neues Wissen.

Im Rahmen des Strategiedialogs Automobilwirtschaft Baden-Württemberg (SDA) beschäftigte sich die interdisziplinäre Arbeitsgruppe „Forschungs- und Innovationsumfeld“ (2018-2021) unter dem Vorsitz von Wissenschaftsministerin Theresia Bauer sowie Institutsleiterin und Universitätsprofessorin Marion Weissenberger-Eibl (Fraunhofer ISI & Karlsruher Institut für Technologie / KIT) daher mit der Frage, wie der Mobilitätsbereich anpassungsfähiger und agiler werden kann. Denn Agilität und Adaptivität des Gesamtsystems werden entscheidenden Einfluss darauf haben, ob Baden-Württemberg weiterhin erfolgreich im globalen Wirtschaftsgefüge mitwirken und seine Stellung als Innovationsland behaupten kann – so die Annahme. Seit 2017 vernetzt die Landesregierung Politik, Wirtschaft, Wissenschaft, Arbeitnehmerverbände, Verbraucherorganisationen, Umweltverbände und Zivilgesellschaft im SDA, um konkrete Maßnahmen für die Transformation der Mobilität zu entwickeln.

Im Fokus der Arbeitsgruppe „Forschungs- und Innovationsumfeld“ standen drei Handlungsfelder:

  • Gesellschaftlichen Wandel unterstützen (Prof. Dr. Christoph Walther / PTV Group, Bauhaus-Universität Weimar)
  • Innovationssysteme dynamisieren (Handlungsfeldleitung: Prof. Dr. Andreas Pyka / Universität Hohenheim)
  • Innovationskultur stärken (Handlungsfeldleitung: Prof. Dr.-Ing. Dr. h. c. Albert Albers / KIT)

Flankiert wurden die Beratungen durch wissenschaftliche Begleitung des Fraunhofer ISI. Die Erkenntnisse der Arbeitsgruppe sind nun unter dem Titel „Zukunft der Mobilitätswirtschaft: Empfehlungen der Mobilitätsforschung“ veröffentlicht und im Folgenden auf den Punkt gebracht.

Gesellschaft einbeziehen

Die Transformation im Mobilitätsbereich geschieht nicht losgelöst von anderen Entwicklungen. Sie vollzieht sich vor dem Hintergrund des gesellschaftlichen Wandels. Dieser bringt beispielsweise neue Wertvorstellungen, neue Lebensstile und neue Einstellungen gegenüber den Umweltressourcen und ihrem Verbrauch mit sich. Hieraus ergibt sich die historische Chance, Mobilität nachhaltig zu entwickeln. Das bedeutet, dass auch nicht-technologische Fragestellungen einen zentralen Beitrag leisten, um die Transformation zu gestalten. Von der Frage, wie wir in Zukunft leben wollen, hängt unser Mobilitätsverhalten ab. Voraussichtlich vollzieht sich der Wandel vom Automobil und individuell dominierten System hin zu einem diversifizierten und vernetzten Mobilitätssystem. Ein Beispiel wäre, mehrere Verkehrsträger für eine Wegstrecke zu nutzen – mit dem Leihrad eines Bike-Sharing-System zum Bahnhof, mit dem Zug in eine andere Stadt und weiter mit dem autonomen Shuttle zum Ziel – und von einer intelligenten Verkehrssteuerung, die Ampelschaltungen, Beschilderungen und Fahrstreifen anpassen kann, zu profitieren.

Was aber sind die Ziele der künftigen Mobilität? Ganzheitliche Zielbilder erreichen wir, indem wir den gesellschaftlichen Wandel stärker in den Fokus der Transformation rücken und fragen: Was ist bspw. unser Zielbild für Baden-Württemberg? Der Zielkorridor spannt sich zwischen technologischen und wirtschaftlichen sowie ökologischen und sozialen Aspekten auf, beispielsweise Lebensqualität und Ernährung oder zukunftsweisende Arbeitsplätze. Diese Ziele gilt es – wie auch im SDA angedacht –partnerschaftlich von allen gesellschaftlichen Gruppen zu entwickeln und zu verhandeln. Immer mehr Menschen möchten ihr Lebensumfeld aktiv mitgestalten: in Dialogprozessen mit den Kommunen, aber auch durch die Vorbereitung von Volksentscheiden für den Mobilitätssektor. Neue Formen der Partizipation ergänzen die parlamentarischen Prozesse und erhöhen die Chancen, breite Akzeptanz in der Bevölkerung zu finden.

Kurzum: Es gibt die Notwendigkeit, Ziele in öffentlichen Diskursen zu verhandeln, durch Maßnahmen und Best-Practices die Bevölkerung zu gewinnen und so politische Mehrheiten zu finden, um den Wandel der Mobilität zu stützen und zu gestalten.

Die Mobilitätswende ist also auch eine Kommunikationsaufgabe. Unser Mobilitätsverhalten ist stark habitualisiert und routinisiert. Um Gewohnheiten wirksam zu beeinflussen und eine nachhaltige Mobilität im Alltag der Menschen zu verankern, gilt eine individuelle Ansprache als vielversprechend. Soziale Netzwerke bspw. bieten Möglichkeiten, um die verschiedenen sozialen Milieus zu erreichen.

Um die Mobilitätswende ganzheitlich umzusetzen, sind Konzepte gefragt, die alle gesellschaftlichen Akteure und Bereiche berücksichtigen – von den Kommunen, über die Unternehmen bis zu den Universitäten und Bildungseinrichtungen. Dazu gehört auch die Förderung zivilgesellschaftlicher Strukturen und sozialer Innovationen. Es bedarf wirkungsvoller Instrumente, welche die Lebenswelt verschiedener Generationen, Lebensstile und Wohnumfelder sowie der Organisationen treffen. In Reallaboren bspw. können Wissenschaft, Wirtschaft und Gesellschaft zusammenkommen und gemeinsam neue Ideen entwickeln und Lösungen erproben. So werden sie zu innovativen Testräumen.

Zentrale Handlungsoptionen

Es gilt, die Grenzen und Übergänge zwischen dem wissenschaftlichen System, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft neu zu definieren, um maximalen Impact für die Mobilitätswende zu erzielen. Eine erfolgreiche Mobilitätswende erfordert schnelles, koordiniertes und entschiedenes Handeln. Die Arbeitsgruppe empfiehlt daher:

  • Es gilt, ein Leitbild unter Einbezug aller gesellschaftlichen Akteure zu entwickeln und
  • auf lokaler Ebene praxisnahe Beispiele für Maßnahmen der Mobilitäts- und Raumgestaltung verfügbar zu machen.
  • Für informelle Beteiligungsformate zur Gestaltung von Mobilität und Raum sind Land und Kommunen gefragt; die daraus entstehenden Ergebnisse sind in Strategien und Anreizsysteme zu überführen.
  • Die Hochschulen sollten sich aktiv in Diskurse um zukunftsfeste Mobilitäts- und Siedlungsformen auf lokaler Ebene einbringen und damit die Kommunen und (Mobilitäts-) Unternehmen unterstützen.

Innovationssystem dynamisieren

In unserem Innovationssystem – und ganz besonders in Baden-Württemberg mit seiner weitentwickelten Ingenieurskunst – war die Technologie schon immer sehr stark im Fokus. Baden-Württemberg ist ein Innovationsland. Doch hatte der Mobilitätssektor die gesellschaftlichen Entwicklungen und realweltliche Probleme im Blick? – Herausforderung wie beispielsweise Ressourcenverknappung, Erderwärmung, gesellschaftlicher Wandel, Verkehrsaufkommen und Mobilitätstrends? Um ehrlich zu sein: Nicht immer.

Was heißt das für die Zukunft? Erfolgreiche Innovationen müssen vor allem eines: Lösungsansätze liefern – und zwar für den Menschen und seine Bedürfnisse. Die Herausforderung liegt also weniger darin, alternative Antriebe zu entwickeln. Vielmehr geht es darum, das gesamte Geschäftsmodell der Automobilwirtschaft zu überdenken und das Innovationssystem zu dynamisieren. Letzteres bedeutet, die Systemgrenzen zu überwinden, um eine Industrie oder Region zukunftsfähig zu machen. In den Fokus sollte ein zukunftsorientiertes Innovationssystem für nachhaltige Mobilität rücken.

Dafür sind mutige Ideen aus ganz unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen gefragt. Zwar werden beispielsweise Zivilgesellschaft, Kommunen, Wirtschaft, Hochschulen und Politik häufig als Teil des Innovationssystems genannt – aber kommen sie auch zusammen? Arbeiten sie gemeinsam an innovativen Mobilitätskonzepten? Oder sind es die klassischen Akteure aus Wissenschaft, Wirtschaft und Politik, welche die Transformation der Mobilität vorantreiben wollen? Akzeptanz für eine Mobilitätswende ist erreichbar, wenn wir zentrale Interessengruppen und die mobilen Bürger:innen mit ihren Kompetenzen einbinden und ihre Vorschläge und Ideen wertschätzend berücksichtigen. Neben technologischem und Zielwissen benötigen wir für die Transformation Wissen über Prozesse und Dynamiken in Innovationssystemen und wie man sie verändert. In unseren Hochschulen und Forschungseinrichtungen ist dieses Wissen vorhanden. Die sozialwissenschaftlichen Disziplinen haben ein Verständnis dafür entwickelt, wie ein fundamentaler sozio-technischer Wandel gestaltet werden kann.

Daher gilt es, die disziplinenübergreifende Zusammenarbeit zu fördern und die Silostrukturen im Forschungs- und Innovationsumfeld aufzubrechen, um den Wissenstransfer zwischen Ingenieurs-, Natur- und Sozialwissenschaften zu ermöglichen. Die weitgehend disziplinär ausgerichteten Curricula bereiten die heutigen Studierenden bislang nicht auf die Bewältigung der komplexen Probleme unserer Zeit vor. Die Mobilität der Zukunft wird eine verknüpfte Mobilität mit radikal neuen Mobilitätsangeboten sein. Dafür benötigen wir Konzepte und Technologien, an die wir heute nicht einmal denken. Genau darum geht es im InnovationsCampus Mobilität der Zukunft der Universität Stuttgart und des KIT. Er stellt interdisziplinäre Grundlagenforschung in den Fokus, mit dem Ziel schnell und flexibel neue Technologien und Innovationen hervorzubringen. Mit dem Mobility Lab nutzt die Universität Stuttgart den Reallabor-Ansatz, um innovative Ansätze für den emissionsfreien Campus umzusetzen. Beide Projekte wurden im Zusammenhang mit dem SDA auf den Weg gebracht.

Darüber hinaus ist es essentiell, dass es strategische Kooperationen mit Partnern aus ungewohnten Bereichen gibt – sowohl innerhalb der Industrie und Forschung als auch mit Akteuren, die sich normalerweise mit gänzlich anderen Themen beschäftigen. Ansonsten laufen wir Gefahr, die Zukunft der Automobilwirtschaft und unseren Mobilitätsstandort mit Ansätzen und Modellen aus der Vergangenheit gestalten zu wollen. Folglich sollten wir auch nicht fördern, was den Status quo festigt, sondern den schnellen Ideentransfer zwischen Forschung, Unternehmen und Gesellschaft ermöglicht. Das Ziel sollten systemische Lösungen sein, die das Innovationssystem dynamisieren. Ein nachhaltiges Mobilitätssystem der Zukunft hat neben der Weiterentwicklung der baden-württembergischen Industrie ebenso die sozialen (Lebensqualität, zukunftsfähige Arbeitsplätze) und ökologischen (Emissionsreduktion aus dem Verkehr) Herausforderungen im Blick.

Zentrale Handlungsoptionen

Die Arbeitsgruppe empfiehlt daher:

  • Alle Stakeholder einbinden.
  • Das Wissenschaftssystem erneuern und transdisziplinäre Forschung ermöglichen.
  • Systemische Lösungen vorbereiten.

Innovationskultur stärken

Innovationen sind für den Fortschritt der Gesellschaft unabdingbar und für Wettbewerbsfähigkeit von Unternehmen entscheidend. Ein effektives Innovationsmanagement beruht auf organisationalen Rahmenbedingungen wie Innovationsstrategie, Innovationsstruktur und Innovationssysteme. Sie sind entscheidend dafür, wie mit Inventionen und Lösungsansätzen in Unternehmen umgegangen wird. Daneben sind es die weichen Erfolgsfaktoren, wie Werte, Kompetenzen, Kultur und ganzheitlich denkende Mitarbeiter:innen, welche die Umsetzung bestimmen.

Dabei haben Unternehmen ein sehr unterschiedliches Verständnis von Innovationskultur, das insbesondere im Zusammenhang mit ihrer Größe steht. Werte, Verhalten und Klima bestimmen die Innovationskultur in großen Unternehmen, ihr Verständnis ist eher abstrakt. Sie betreiben aktive Ideenförderung – sowohl intern als auch extern. Kleine und mittlere Unternehmen (KMU) verfügen über weniger Ressourcen. Inventionen und Innovationen gelten als Mittel, um neue Technologien und Prozesse zu entwickeln oder zu verbessern. Ihr Verständnis von Innovationskultur ist produktorientiert. Um Visionen voranzutreiben suchen KMU nach Partnern im regionalen Bereich.

Eine zentrale Frage ist, wie die Forschungseinrichtungen des Landes zur Stärkung der Innovationskultur beitragen können. Die Politik ist gefordert, den Aufbau eines landesweit einheitlichen Rahmenwerks zu unterstützen und auf die Vermeidung bürokratischer Hürden zu achten. Forschungseinrichtungen können durch den Ausbau der Kooperation mit Unternehmen die Innovationskultur stärken, indem sie bspw. verstärkt auf Transfereinrichtungen setzen. Wichtig ist ein schneller und unbürokratischer Einstieg in die Kooperation. Auch durch schnelle Formate wie Innovation Challenges lässt sich gemeinsam an interdisziplinären Ideen arbeiten. Im Kern sind Hochschulen jedoch Bildungsorte. Die Lehre bildet die Basis für ein erfolgreiches Innovationsmanagement und ist Ausgangspunkt für ein verändertes Mindset, das durch Offenheit, Kooperationsbereitschaft, Mut und Risikobewusstsein geprägt sein sollte. Rollenbilder aus der Praxis können förderlich sein. Daneben liegt im Aufbau von Kompetenzmarktplätzen weiteres Potenzial, damit Unternehmen einfachen Zugang zu Fachexpert:innen erhalten. Kurzum: Es ist aussichtsreich, praxisgerechte Unterstützungsangebote anzubieten, die ohne große Aufwände in die Prozesse der Unternehmen integriert und an diese angepasst werden können – insb. auch für kurzfristige Forschungsprojekte. Ein Beispiel ist ein sog. „InnovationLab on Campus“ für reale Projekte mit hohem Innovationspotenzial. Unternehmen bekommen Zugang zu innovativen Entwicklungsmethoden und aktuellen Technologien und machen sich zugleich sichtbar für den Talentpool zukünftiger Entwickler:innen.

Ein Experimentierfeld für Innovationen sind auch die Leuchtturmprojekte in Baden-Württemberg, bspw. der InnovationsCampus, das Mobility Lab, ARENA2036 und das Cyber Valley. Sie bilden zentrale Elemente im Transformationsprozess der Automobilwirtschaft und verdeutlichen das Innovationspotenzial intensiver Kooperation zwischen Unternehmen und Forschung.

Zentrale Handlungsoptionen

Die Arbeitsgruppe empfiehlt daher:

  • der Politik: Innovation durch Ideenplattformen, Infrastruktur und Netzwerke zu fördern.
  • der Forschung: Die Kooperation mit Unternehmen auszubauen.
  • der Mobilitätswirtschaft: Ideenplattformen und externen Ideengeber zu fördern und zu nutzen, z. B. durch Einbeziehung von Start-ups und/oder Intensivierung der Kooperation mit der Forschung.

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